Armut, psychische Belastungen und Fachkräftemangel bringen Jugend- und Eingliederungshilfe an ihre Grenzen. Die Diakonie fordert frühzeitige Prävention, verbindlichere Kooperation und flexiblere Hilfen.
Immer häufiger machen sogenannte „Systemsprenger“ die Grenzen der Hilfesysteme extrem sichtbar: Ihre Biografien zeigen, dass es nicht allein an individuellen Defiziten liegt, sondern an starren Strukturen, knappen Ressourcen und brüchigen Übergängen zwischen Jugend- und Eingliederungshilfe.
Gesellschaftliche Veränderungen als Ursache
„Der Trend hat seinen Ursprung in tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen“, erklärt Dietrich Bauer, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Sachsen. „Armut, psychische Belastungen, zerrissene Bindungen und der Verlust stabiler sozialer Netze prägen die Lebensläufe vieler Kinder. Was wir heute erleben, ist das Ergebnis jahrelanger Vernachlässigung sozialpolitischer Themen – vor denen wir als Diakonie frühzeitig gewarnt haben.“
Laut Bundeszentrale für politische Bildung leben inzwischen 21,8 Prozent aller Kinder in Deutschland in Armut. Sie haben ein 3,5-mal höheres Risiko, psychische Auffälligkeiten zu entwickeln. „Armut führt zu chronischem Stress, schwächt Familienbeziehungen und schränkt Zugänge zu Bildung und Gesundheit stark ein.“, erklärt Christin Dörbeck, Referentin für Kinder- und Jugendhilfe der Diakonie Sachsen.
Hinzu kommen vielfältige Belastungen: Die Corona-Pandemie, die Klimakrise und der Ukrainekrieg haben die Sorgen Heranwachsender massiv verstärkt. Nach der COPSY-Studie leidet heute fast jedes dritte Kind unter psychischen Problemen – vor der Pandemie war es nur jedes fünfte. Die Digitalisierung verstärkt die soziale Isolation: Jugendliche mit psychischen Problemen verbringen deutlich mehr Zeit online. „Wir sehen eine ganze Generation, die mit Unsicherheit, Reizüberflutung und Zukunftsängsten aufwächst“, so Bauer. „Diese Kinder reagieren nicht irrational. Sie reagieren auf eine sie überfordernde Umwelt.“
Das System selbst steht unter Druck
Parallel steigen die Zahlen der Inobhutnahmen rapide: 2023 wurden bundesweit rund 74.600 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen – ein Plus von zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Wir erleben eine systemische Überforderung“, so Dörbeck. „Einrichtungen können Kinder nicht mehr aufnehmen, weil Personal fehlt. Jugendämter müssen in Eile vermitteln. Die Folge sind Abbrüche, Fehlplatzierungen und Frustration auf allen Seiten.“
Nach Einschätzung der Diakonie Sachsen sind rund fünf bis neun Prozent der betreuten Kinder sogenannte „Systemsprenger“. Sie sind im Durchschnitt 13 Jahre alt und haben in ihrer Kindheit oft häufige Wohnungs- und Schulwechsel erlebt. Ihre extremen Verhaltensweisen wie Wutausbrüche, Aggression oder Selbstverletzung sind Reaktionen auf erlittene Traumata. „Diese Kinder sprengen nicht das System, sie zeigen seine Schwachstellen.“, so Bauer. „Sie zeigen, dass unsere Hilfestrukturen zu starr und schlecht ausgestattet sind.“ Die Diakonie Sachsen spricht daher auch von „Systemprüfern“, auch um eine Stigmatisierung der jungen Menschen zu verhindern.
Übergänge und Schnittstellen: Jugendhilfe trifft Eingliederungshilfe
Ein Aspekt, der bislang zu kurz kommt, ist der Übergang ins Erwachsenenalter und damit in die Eingliederungshilfe. „Systemsprenger“, die älter werden, stehen beim Wechsel vom Jugend- in das Erwachsenensystem vor erheblichen Schnittstellenproblemen: Zuständigkeiten ändern sich, Versorgungslücken entstehen. Der Kommunale Sozialverband Sachsen (KSV) als überörtlicher Träger der Eingliederungshilfe ist verpflichtet, geeignete Angebote vorzuhalten. Aktuell existieren nur wenige. Viele Träger fühlen sich alleingelassen, denn es fehlt an verbindlichen Kooperationsstrukturen und ausreichenden Ressourcen.
„Der Systemwechsel ist ein kritischer Moment“, ergänzt Christian Stoebe, Referent für Teilhabe der Diakonie Sachsen. „Wenn Übergänge nicht gestaltet werden, verlieren wir Menschen an der Nahtstelle zwischen Jugend- und Eingliederungshilfe.“
Was hilft – und warum es dennoch zu selten umgesetzt wird
Forschung und Praxis sind sich einig, was wirkt: Beziehungskontinuität, traumasensible Begleitung und flexible, niedrigschwellige Hilfen. Erfolgreich sind insbesondere intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfen oder therapeutische Wohngruppen. Sie ermöglichen eine langfristige Arbeit der Fachkräfte mit den Kindern und Jugendlichen. Damit diese Unterstützung nicht abrupt endet, sollten solche Hilfen auch nach der Volljährigkeit fortgeführt werden können – vorausgesetzt, die Kostenträger einigen sich auf gemeinsame Verfahren.
Doch derzeit seien die Hilfesysteme zu stark standardisiert und zu wenig vernetzt. Häufig komme es zu parallelen Zuständigkeiten von Jugendhilfe, Psychiatrie und Schule, ohne verbindliche Kooperation, kritisiert der evangelische Wohlfahrtsverband. „Die Jugendhilfe kann das Problem nicht allein lösen, auch nicht mit ein paar zusätzlichen Fachkräften“, so Dörbeck. „Wir brauchen funktionierende Netzwerke zwischen Gesundheitssystem, Schule, Polizei und freien Trägern.“
Prävention und Armutsbekämpfung als Schlüssel
Nach Ansicht der Diakonie Sachsen müssen die Weichen viel früher gestellt werden. Armut ist der stärkste Risikofaktor. Deshalb braucht es niedrigschwellige Zugänge zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Erziehungsberatungsstellen sowie aufsuchende Angebote wie Familienhebammen. Viele schulpsychologische und therapeutische Angebote sind chronisch unterfinanziert.
„Wer Familien erst dann unterstützt, wenn die Situation eskaliert, handelt zu spät und zu teuer“, sagt Bauer. „Wir brauchen eine Sozialpolitik, die Armut wirksam bekämpft, Prävention strukturell verankert und Fachkräfte entlastet. Nur so können wir Kinder davor bewahren, aus allen Systemen zu fallen.“
Ein Appell an Politik und Gesellschaft
Die Diakonie Sachsen fordert von Bund und Land, Prävention und Kooperation gesetzlich zu stärken, die psychische Gesundheitsversorgung von Kindern auszubauen und langfristig tragfähige Finanzierungsstrukturen zu schaffen.
„Wir tragen die Verantwortung für diese Generation“, betont Bauer. „Wenn Kinder das System sprengen, liegt das nicht an ihnen, sondern daran, dass das System zu schwach ist, um sie sicher zu halten.“
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