Rückblick Fachtag

08.05.2017 | Fetales Alkoholsyndrom: „Warum krieg ich mein Leben nicht auf die Reihe?“

Mehr Prävention, Warnsymbole für Schwangere auf Wein-, Bier- und Spirituosenflaschen sowie Verkauf von allen alkoholischen Getränken ab 18 Jahren sind das Mindeste

„Alkohol in der Schwangerschaft ist die extremste Form der Kindesmisshandlung, die es gibt. Die entstandenen Schäden sind nicht wieder gutzumachen und die betroffenen Kinder für ihr gesamtes Leben gezeichnet. Doch die Auswirkungen von Alkoholkonsum in der Schwangerschaft werden immer noch tabuisiert, kleingeredet und häufig gar nicht erkannt.“ Der Kinderarzt Prof. Dr. Hans-Ludwig Spohr vom FASD-Zentrum der Charité Berlin wies in seinem Fachvortrag zu Beginn eines Fachtages der Diakonischen Akademie in Moritzburg darauf hin, dass sich die gravierendsten Auswirkungen von FASD in den meisten Fällen durch massive Verhaltensbeeinträchtigungen sowie Lernschwierigkeiten im Kinder- und Jugendalter zeigen und es den Betroffenen trotz größter Anstrengung meistens nicht gelingt, in ein eigenständiges Leben zu finden. Doch das extrem herausfordernde  Sozialverhalten - wie heftige und unvorhersehbare Wutausbrüche, kein Arbeitsgedächtnis, distanzloses Verhalten, Lügen oder Stehlen - wird nicht als Symptome der FASD wahrgenommen, sondern mit sozialen Defiziten erklärt. Bis heute sei es schwer, geeignete Ansprechpartner zur gezielten Diagnostik zu finden. Die Zahl der Ärzte, die sicher Fetales Alkoholsyndrom(FAS) oder ein partielles FAS (pFAS) diagnostizieren könnten, sei in Deutschland gering. „Es werden dafür andere Dinge festgestellt, wie ADHS, Legasthenie, Wahrnehmungsstörungen, gestörtes Verhalten, niedriger IQ, Lese-Rechtschreib-Schwäche usw. Aber die Grunddiagnose fehlt. So verdächtigen dann  Schule und Behörden die Eltern, erziehungsunfähig zu sein. Vor allem für Pflege- oder Adoptiveltern, die ein scheinbar normales Kind bekommen hatten, und ihr Bestes geben, ist dies furchtbar. Eine saubere Diagnose und damit verbunden die Einsicht, dass hier eine klar definierte Behinderung vorliegt, ist daher von enormer Wichtigkeit - schon um überhaupt einen Zugang zum Hilfesystem zu bekommen und damit Möglichkeiten für eine positivere Entwicklung einzuleiten.“

Etwa 10.000 Neugeborene kommen jährlich in Deutschland mit Alkoholschäden zur Welt.  Alkohol ist wie auch andere Drogen im Verlauf der gesamten Schwangerschaft ein extremes Zellgift (Zellteilungsgift), das die hirnorganische Entwicklung dauerhaft schädigt. „Junge Frauen trinken heute häufiger als früher, vor allem am Wochenende - und schon dieser hohe Alkoholkonsum in der ersten Zeit  einer womöglich noch gar nicht bemerkten Schwangerschaft hat enorme Auswirkungen. Es kommt eine große Zahl erwachsener Menschen mit FASD auf uns zu, die für ihr gesamtes Leben Unterstützung brauchen“, warnt Spohr.

Christian Schönfeld, Chef der Diakonie Sachsen, fordert daher neben einer klaren Verbesserung der Alkohol-Prävention schon in Schulen, endlich auch das Warnsymbol für Schwangere auf Wein-, Bier- und Spirituosenflaschen. „Und vor allem auch auf den von bei den Jugendlichen so beliebten Alcopop,  in denen der Alkohol durch Süße überdeckt wird. Schon 2008 hat die Suchtbeauftragte der Bundesregierung eine solches Warnsymbol gefordert - aber die Lobby hat es zu verhindern gewusst. Wann wird die Politik endlich aufwachen?“ Darüber hinaus setzt sich die Diakonie Sachsen dafür ein, dass Alkohol erst für Personen ab 18 Jahren zugänglich gemacht wird. Neben dem Warnsymbol für Schwangere kann auch dies auf alkoholischen Getränken gekennzeichnet werden, ebenso wie der Hinweis, dass unter Alkoholeinfluss kein Fahrzeug bewegt werden soll.

Insgesamt gab der Fachtag einen beeindruckenden und nachhaltigen Einblick in ein Krankheitsbild, bei dem ungeborenes Leben so schwer und lebenslänglich beeinträchtigt wird, dass endlich auch die Politik aufwachen und das nach wie vor gesellschaftlich hoch anerkannte Thema Alkohol hinterfragen muss.