TRAU IHR WAS ZU ...
... ein diakonisches Wort zur Jahreslosung von Christine Rösch
Sie ist weiblich, jung, Single. Jedenfalls die, von der ich heute schwärmen will. Sie heißt Barmherzigkeit. DIE Barmherzigkeit. Weil es den Namen schon früher gab, heißt das nicht, dass er nicht neu entdeckt werden könnte. Alte Namen tauchen doch immer mal wieder auf und werden Lieblingskindern gegeben, die dann Max und Emma, Hubertus und Elisabetha heißen. Sehen wir also nach der jungen Barmherzigkeit- jetzt besonders am Anfang des Jahres. Sie wird uns begleiten, wie eine Gefährtin und Freundin, weil sie mit der Jahreslosung der Kirchen für 2021 zu uns gekommen ist. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ (Lukas 6,36)
Sie war schon mehrfach eine Jahresbegleiterin. So hat Papst Franziskus im Jahr 2016 ein „Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen. Und schon 2007 haben wir den Thüringer Kirchentag mit dem Motto „Mut zur Barmherzigkeit“ vorbereitet. Sie ist mir also vertraut, wirklich. Und doch verschwindet sie immer einmal wieder aus den Augen. Sogar in der Diakonie- und mit der sollte sie ja eigentlich wirklich fest liiert sein.
Sie ist jung und interessant und auch deshalb sehen wir ihr immer wieder nach, wenn sie auftaucht. Sie wärmt einem das Herz. Wer sie leibhaftig spürt, fragt sich, wieso man sie vergessen konnte. Dann will man nie wieder auf sie verzichten. Und doch lassen wir uns ablenken und abschrecken? „Wer lebt denn heute noch mit der verschwenderischen Barmherzigkeit?“, fragt der Geschäftstüchtige. „Die bringt einen an den Rand des Ruins, wenn man sie mitmachen lässt.“ Und der Neid kann sie schon gar nicht ausstehen. Ständig macht er sie nieder, verhöhnt ihre Gutgläubigkeit. Hasst sie, weil sie in manchen Kreisen mehr Liebhaber hat als er. Kein Wunder, dass man sie beschützen will, weil sie zart ist und oft allein dasteht.
„Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Sehen Sie, auch Gott und Jesus legen sie uns ans Herz. Allein schon ihr Name fordert ja das Herz heraus. Das stört zwar den Verstand manchmal. Aber nach einer längeren Beziehung mit der Barmherzigkeit, sieht auch er ein, dass es sehr vernünftig ist, sie bei sich zu behalten. Man kann ihr schon etwas zutrauen. Sie kommt aus gutem Hause, bestes genetisches Material könnte man sagen. Sie kommt nämlich von Gott.
Und von dem wird auch schon als markantes Wesensmerkmal gesagt: „Du bist ein Gott, der verzeiht, du bist gnädig und barmherzig und reich an Güte.“
Wenn das nicht vertrauenswürdig klingt? Aber auch die biblischen Geschichten erzählen davon. Da zeigt Jesus im Gleichnis vom Vater und seinen zwei Söhnen (Lukas 15), dass uns die Liebe Gottes ohne Bedingungen geschenkt ist. Und keineswegs von unseren vermeintlich guten Taten abhängt. Der Vater liebt den Sohn, der ihm das ganze Leben lang treu war. Aber eben genauso auch den anderen Sohn, der ihn erst verlassen hatte und dann doch zurückkehrt war: Er kommt ihm schon von Weitem strahlend entgegen. Wer das erlebt hat, will auch so sein. Und es spricht nichts dagegen. Die Bibel beschreibt das etwas altmodisch mit dem Satz: „Gott hat die Menschheit nach seinem Abbild geschaffen.“. Also sind wir doch immer öfter vom Wesen her so wie Gott.
So sagt es auch Basilius von Caesarea im 4. Jahrhundert: „Du wirst Gott ähnlich, indem du gütig bist. Suche nach Barmherzigkeit und Güte, um Christus wie ein Gewand anzulegen.“ Deshalb suchen wir Christen genauso wie unzählige Glaubende der anderen Religionen danach, die Barmherzigkeit in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen.
Das Jahr 2020 hatte vermutlich für viele von uns ein ungewöhnliches Christfest und einen stilleren Jahreswechsel als sonst. Ein verrücktes Jahr liegt hinter uns, seitdem die Corona-Pandemie über uns hereinbrach. Und das hat sich ab dem 14. Dezember noch mehr verschärft. Wie in jedem Jahr liegt die persönliche und gesellschaftliche Zukunft im Ungewissen. Doch Covid 19 hat viele vermeintliche Gewissheiten noch weiter erschüttert. Wie verletzlich unser Leben ist und auch in Zukunft bleibt, scheint jetzt noch klarer. So schauen viele Menschen mit ängstlichem Blick in das gerade begonnene Jahr. Die biblische Jahreslosung tut mir gut. Sie stammt aus der „Feldrede“ bei Lukas, der Parallele zur bekannten Bergpredigt bei Matthäus. Jesus spricht auf einem Feld vor großem Publikum, viel mehr Menschen als erwartet, sind dabei. „Und alles Volk suchte ihn anzurühren, denn es ging Kraft von ihm aus und er heilte sie alle.“, heißt es (Vers 19). Heilung ist also doch möglich. Sie geschieht hier durch die Kraft, die Jesus verströmt. Wo Menschen Gott begegnen und ihm vertrauen, da erfahren sie eine solche heilsame, lebensförderliche Energie Gottes. Wie sehr ich sie mir und Ihnen für das neue Jahr wünsche: diese heilsamen göttliche Energie.
Diese Energie ist die Kraft der Liebe: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“.
„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Das hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Beginn des Corona-Ausbruchs gesagt. Das glaub ich auch. Eigentlich müsste die Barmherzigkeit zur Hochform auflaufen.
Es gibt etwas, woran Sie die Barmherzigkeit sofort erkennen. Sie ist exzellent in der Vergebung. Und das, obwohl sie die große Gereiztheit um sich herum auch erlebt. Natürlich wird sie oft an die Wand gedrängt, in den sozialen Medien sogar hingerichtet. Doch sie weiß, dass Hassreden, Verschwörungen und beleidigendes Gebrülle nicht das letzte Wort haben werden. Und sie wird sich diesen Ton auch niemals angewöhnen. Lieber leidet sie mit den jungen Frauen, die sich von jedem Post schikanieren lassen. Genauso wie mit allen diskriminierten Bevölkerungsgruppen in Deutschland und weltweit. Unbarmherzigkeit wird die Krise nur verschlimmern. Der politischen Rechthaberei zeigt sie die kalte Schulter- oder sie erinnert an die unverletzliche Würde aller Menschen. Auch wenn der Verletzte nicht mehr daran glauben kann. „Richtet nicht!“, weiß sie aus Erfahrung und der Bibel. „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden.“ (Lukas 6, 37).
Gott verweigert uns übrigens niemals seine Vergebung. Christus hat während seines ganzen Lebens vergeben, bis hin zum Kreuz. Niemals hat er auch nur einen einzigen Menschen verurteilt. Darin spürt man den Geist Jesu und erkennt zugleich das markanteste Kleid der Barmherzigkeit.
Auch die Kirche ist dazu berufen, sich von der Barmherzigkeit verwandeln zu lassen. Der geistliche Gründer der Taizé-Gemeinschaft Frère Roger schrieb: „Wenn die Kirche zuhört, wenn sie heilt und die Versöhnung lebt, wird sie zu dem, was sie dort ist, wo sie am hellsten leuchtet: Eine Gemeinschaft der Liebe, des Erbarmens und des Trostes, ein lauterer Widerschein des auferstandenen Christus. Wenn sie nie auf Distanz oder in Abwehrhaltung geht, und sich von jeglicher Strenge befreit, kann ihr demütiges Vertrauen des Glaubens bis tief in unser Herz strahlen.“
Aber die Botschaft von der Vergebung Gottes darf nie benutzt werden, um Böses oder Unrecht gut zu heißen. Im Gegenteil: Die Botschaft der Vergebung Gottes macht uns frei, unsere eigenen Fehler und die von lebensfeindlichen Strukturen klarer zu sehen; auch die Fehler und das Unrecht in unseren Kirchen, der Diakonie und in der Welt. Wir müssen wiedergutmachen, was wieder gut gemacht werden kann, darin bestärkt mich die Barmherzigkeit immer wieder.
Und dann singt sie vielleicht: „Herr, lass deine Wahrheit uns vor Augen steht. Lass in deiner Klarheit Lug und Trug vergehn. Lass uns selbstlos werden, wende unsern Sinn auf der ganzen Erde zu dem Nächsten hin. (Liselotte Corbach, 1953)
Sie ist weiblich, jung, Single…die Barmherzigkeit. Aber vielleicht wird sie ja bald heiraten. Herrn Güte könnte ich mir passend zu ihr vorstellen. Oder auch Ritter Zivilcourage? Oder wäre Mister Glaubensheld vielleicht der Richtige? Manchmal kommt es mir aber so vor, als wären die in manchen Regionen auch im Dornröschenschlaf und müssten erst mal wieder wachgeküsst werden. Aber dann sehe ich das zukünftige Paar Hand in Hand über den Flur des Altenheimes rennen, weil Hermann oder Erna einsam sind und Heimweh haben und nach jemandem rufen. Oder die beiden diskutieren nächtelang, wie die Kirche für Kinder jetzt spielbereit bleibt! Und an der Tür des Gesundheitsamtes gab Mister Glaubensheld neulich einen üppigen Rosenstrauß ab, als Gruß von der Heiligen Elisabeth und seiner großen Liebe, der Barmherzigkeit.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Das ist kein strenger moralischer Appell, den Jesus an seine Gemeinde richtet. Die Jahreslosung ist ein Glücksfall für den Beginn dieses Jahres. Gott wird barmherzig sein! Was verfahren ist, kann sich wandeln. Was uns Sorgen macht, kann Trost erfahren. Heilung ist möglich und Bedrohliches kann eingegrenzt werden. Denn „euer Vater ist barmherzig!“, heißt es.
Die Barmherzigkeit sollten Sie ruhig ein bisschen anhimmeln. Und ihr in Zukunft mehr zutrauen. Und Gratulation: wer sich mit der Barmherzigkeit einlässt, der wird wirklich Wunder erleben in einem gesegneten neuen Jahr. Das glaubt und hofft Ihre Christine Rösch.