29.04.2022

1. Mai: Armut und Schulden trotz Arbeit

- Lebenslagenbericht der Diakonie Sachsen zeigt, dass Arbeit nicht vor Ver- und Überschuldung schützt

Statistische Erhebung zur Lebenslage/Bericht 2022 der Sozialen Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatung Diakonie Sachsen

„Zum ersten Mal in der 30jährigen Geschichte der diakonischen Schuldnerberatung in Sachsen führen Menschen in Arbeit die Statistik der Ratsuchenden in den Schuldnerberatungsstellen an. Das ist ein erschreckendes Ergebnis, sollen doch gerade Arbeit und Beschäftigung ein auskömmliches und armutsfestes Einkommen sichern!“ Für Rotraud Kießling, zuständige Referentin, zeichnen sich mit dem aktuellen Bericht der Schuldnerberatungsstellen die sozialen Folgen von Pandemie und Inflation deutlich ab.  „Dass Sozialleistungen (Sozialhilfe/SGB II-Leistungen „Hartz IV“) nicht vor Überschuldung schützen, weil die einzelnen im Regelsatz enthaltene Bestandteile - wie z. B. die veranschlagten Kosten für Energie, Lebensmittel oder Mobilität - in keiner Weise dem tatsächlichen Bedarf entsprechen, ist nicht neu. Es hat sich dramatisch weiter verschärft, was letztendlich zwangsläufig zu Überschuldung führt. Aber dass jetzt zunehmend Menschen in Arbeit nicht mehr in der Lage sind, ihre monatlichen Fixkosten zu begleichen, zeigt, dass Mietpreisentwicklung, Inflation und Corona bedingte Mindereinnahmen die soziale Schieflage weiter vorantreiben und die ungleiche Verteilung der Vermögen weiter zugenommen hat. Gleichzeitig steigen die Preise für lebenswichtige Güter wie z. B. Energie oder Lebensmittel immer weiter, so dass sich die finanzielle Situation vieler Menschen zusehends verschärft, Lebenslagen von Familien weiter verschlechtern und noch mehr Kinder in Armut leben müssen. Zu welcher Verzweiflung, Resignation und Hoffnungslosigkeit dies führt, zeigt sich täglich in den Schuldnerberatungsstellen.“

Obwohl die Schuldnerberatung in Zukunft immer wichtiger wird, haben sich gegenläufig zu diesem Trend die Zahl der erfassten Fälle von 3.515 im Vorjahr auf 3.171  in 2021verringert. Was zum einen daran liegt, dass das Beratungsangebot aufgrund unzureichender kommunaler Finanzierung zurückfahren werden musste, zum anderen aber an der zunehmenden Komplexität der Fallkonstellationen liegt. Zusätzlich erschwerten aufgrund der Lockdowns geschlossene Ämter, Gerichte usw. die Arbeit noch einmal  erheblich.  

„Allein die Wartezeiten von teils mehreren Wochen bzw. Monaten auf einen Beratungstermin lassen auf die schwierige Lage der SB schließen. Alle Personen und Familien, die aufgrund fehlender Terminmöglichkeiten keine Beratung erhalten konnten oder sich nur kurz telefonisch oder per Mail informierten, haben wir auch gar nicht erfasst“, sagt Kießling. Gestiegen sei aber weiter der Anteil der Familien, d. h. Alleinerziehende und Paare mit Kindern. Er betrug 40 % und damit stieg auch die Anzahl der in diesen Familien lebenden Kinder: von 825 im Jahr 2020 auf 960 in diesem Berichtsjahr. „Das heißt Ausgrenzung und reale Armut (fast) von Lebensbeginn an! Es schränkt die Betroffenen nicht nur materiell ein, es hat gesundheitliche Folgen und begrenzt die Chance auf Bildung und Teilhabe massiv und damit die Lebensperspektiven insgesamt!“ Rotraud Kießling warnt davor, Menschen mit Schulden allein zu lassen. „Das muss unbedingt vermieden werden. Viele Haushalte sind schon in eine massive Schieflage geraten. Das wird weiter zunehmen. Wenn wir ihnen kein Beratungsangebot machen können oder sie monatelang auf Beratung warten müssen, führt dies persönlich und gesellschaftlich in noch größere Schwierigkeiten!“

So nachvollziehbar die Situation der Kommunen sei, so falsch sei es, bei diesen sozialen Leistungen zu kürzen. „Ver- und Überschuldung bedeutet für die Betroffenen großes Leid. Sie brauchen Hilfe, Unterstützung und Begleitung! Aber auch den Kommunen kommt ein nicht ausreichendes Netz von Schuldnerberatungsstellen, das nicht auskömmlich finanziert ist, am Ende teurer zu stehen. Jeder Verschuldete, dem nicht gut geholfen werden kann, droht eine zusätzliche Belastung für die Kommunen bei der Sozialhilfe zu werden“, so Kießling weiter. Daher seien zusätzliche gemeinnützige soziale Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatungsstellen nötig. Um der Nachfrage an SB gerecht zur werden, wäre eine Verdoppelung der Mitarbeitendenkapazität erforderlich.

„Gerade Menschen, die keinerlei Erfahrung mit Gläubigerschreiben, Inkassounternehmen und gerichtlichen Schreiben haben, brauchen dringend Beraterinnen und Berater, die ihnen erklären, Mut machen, Perspektiven aufzeigen und Lösungen entwickeln. Das Recht auf Schuldnerberatung für alle, die sich in einer ausweglosen finanziellen Situation befinden, muss in einem entsprechenden Gesetz verankert werden. Gleichzeitig müssen die sozialen Sicherungssysteme des SGB II und SGB XII mit der tatsächlichen Entwicklung mitgehen und die real entstehenden Kosten decken helfen. Bestehende Beschäftigungsverhältnisse sowie Wohnraum sind nachhaltig und armutsfest zu sichern,“ so Kießling abschließend.

Hintergrund: Seit knapp 30 Jahren bieten die 19 Schuldnerberatungsstellen der Diakonie Sachsen soziale Schuldner- und Verbraucherinsolvenzberatung (SB) und damit  individuelle Beratung für überschuldete und von Überschuldung bedrohte Menschen an.  Im Berichtsjahr ist die Kapazität ist noch einmal um mehr als eine volle Stelle gesunken (von 22,85 Vollzeitäquivalente auf 21,59 Vollzeitäquivalente). Den vollständigen Bericht der Diakonischen Schuldnerberatungsstellen finden Sie als pdf-Datei im Anhang.

Weitere Informationen: Rotraud Kießling, Tel.: 0351/8315-178