16.08.2018

„Deutschland soll kein Viertelland werden!”

Ulrich Lilie auf der dritten Station seiner Sommerreise in Leipzig

Maria Stephan, 100, brachte es im Gespräch mit Diakoniepräsident Ulrich Lilie, ganz ungeniert auf den Punkt, worin die ganze Misere der Pflege letztlich kulminiert: "Wissen Sie, die Leute bräuchten viel mehr Zeit. Die Pflege hier ist sehr gut, aber es braucht Ohren zum Zuhören, Zeit für Gespräche! Das wäre für beide Seiten so wichtig!" Und dann erzählte die alte Dame hocherfreut dem Diakoniepräsidenten aus ihrem Leben. Und er hörte ihr zu!

Zuhören, das ist der Beginn diakonischen Handelns. Mit Menschen in "unerhörten" Lebenslagen ins Gespräch zu kommen, ist nicht nur das Ziel der "Unerhört!-Kampagne" der Diakonie Deutschland, sondern auch das Ziel der Sommerreise 2018 von Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Im Unerhört!-Forum in Leipzig kam er im Pflegeheim Johann Hinrich Wichern mit dem Missionsdirektor Diakonie Leipzig, Pfarrer Christian Kreusel, dem Abteilungsleiter Soziale Wohnhilfen, Tom Hübner, dem Leiter des Ökumenischen Wohnprojektes Quelle e.V., Matthias Müller-Findling, dem Sprecher für Stadtentwicklung und Bau, Siegfried Schlegel (die Linke), dem Tim Elschner (Bündnis 90/Die Grünen), und dem CDU-Stadtrat Karsten Albrecht sowie Naomi-Pia Witte von den Freibeutern ins Gespräch. In der nachfolgenden Podiumsdiskussion kamen die angespannte Personalsituation in der Pflege, Fachkräftemangel, Pflegequalität, die hohen Eigenentgeltanteile, der immer größer werdende Anteil von alten Menschen im Grundsicherungsbezug, die Vereinsamung im Alter und viele negative Aspekte mehr zur Sprache. "Wie wollen wir mit unseren alten Menschen und demnächst mit uns künftig umgehen?“, laute die Frage, so Lilie. Die strukturellen Herausforderung seien angesichts des demographischen Wandels, mangelnder Fachkräfte und dem zunehmenden Wegfall des stützenden Systems Familie so groß, dass die auch die strukturelle Antwort groß ausfallen müssen, ist Lilie überzeugt. "Es braucht uns alle! Es braucht eine neue Nachbarschaftskultur und eine neue Sorgekultur! Bessere Personalschlüssel, mehr Geld im Pflegesystem und eine refomierte Pflegeversicherung sind wichtig, aber es braucht sektorenübergreifende Lösungen und vor allem die Kommunen, die die Pflege vor Ort wieder zu ihrer Aufgabe machen.“ Damit widersprach Lilie Karsten Albrecht, der die Pflege vorwiegend als eine Aufgabe des Bundes sah.

Beim Thema Wohnungsnot war man sich schnell einig, dass der Zugang zu bezahlbaren Wohnraum bereits für Normalverdiener immer schwieriger wird. In Leipzig könnten Menschen im Leistungsbezug mit den dort veranschlagten Kosten der Unterkunft keine Wohnung mehr anmieten, erzählte Matthias Müller-Findling.

Daher setze die diakonische Wohnungsnotfallhilfe auf Prävention. Sei die Wohnung verloren, werde es schwierig. Alle Wohnungen, die neu gebaut würden, seien für Leistungsempfänger nicht bezahlbar.

Beim Mittagessen auf der Wiese vor der „Leipziger Oase“ kam Lilie mit Besuchern und Mitarbeitern ins Gespräch. "Unsere Gesellschaft wird älter, ungleicher, bunter und digitaler! Ich möchte nicht, dass ein Viertelland entsteht, wo jeder nur sich und seine Interessen lebt!"